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«Das hier war nie mein Traum. Ich wollte nie auf eine Alp», sagt Rona Diem und blickt gedankenversunken auf die satten grünen Bergflanken des Val Lumnezia. Neben ihr liegt ein erschöpfter Hirtenhund, wenige Meter entfernt grasen 180 Ziegen. «Es ist mir einfach nicht in den Sinn gekommen, das mal auszuprobieren.»

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Portrait in der Serie «Freiheit» im Tagesanzeiger, erschienen im August 2017, geschrieben von Adrian Schräder.

Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags an einem Donnerstag im Juli. Zeit für die Hirtin, eine kurze Mittagsrast einzu legen. Sie hat zu diesem Zeitpunkt schon einen ganzen Arbeitstag hinter sich, ist um Viertel nach vier aufgestanden, hat jedes Tier gemolken, sich von deren Wohlbefinden überzeugt, und ist schliesslich mit der ganzen Herde losgezogen, den Hang hinauf, die Flanke entlang und auf die andere Seite des steilen Weidegebiets. Und kaum war sie dort, musste sie mit dem Hund wieder zurück über die Bergkuppe und hinter zwei Ausreisserinnen hereilen, die sich seit zwei Tagen stoisch und stolz allein hier draussen herumtreiben.


Jetzt pellt sie sich aus zwei Schichten Funktionskleidung, legt sie sich als Picknickdecke ins Gelände und stärkt sich mit kaltem Risotto, Broccoli und Ei. Dazu ein paar Käsewürfel aus der eigenen Produktion, um die sich an diesem Tag die Berner Oberländerin Sandra kümmert. Zwischen der Arbeit mit den Ziegen an der frischen Luft und jener in der Sennerei wird im 6- Tage-Turnus gewechselt.

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Vier Monate jemand anders sein 

Die Zürcherin Rona Diem betreibt diesen Sommer für viereinhalb Monate die Alp Parvalsauns ausserhalb des Weilers Puzzatsch. Gemeinsam mit ihrer Mitälplerin ist sie verantwortlich für 180 Ziegen, 4 Schweine und die tägliche Käseproduktion. Verantwortlich dafür, dass der Alpkäse täglich in dem kleinen Kühlschrank am Wanderweg vierzig Meter vom Hof entfernt zum Verkauf angeboten wird und den Weg in verschiedene Volg-Filialen und auf die Wochenmärkte in der Region findet. 

 

Das Käsen hat Diem im Frühling in einem dreiwöchigen Sennenkurs gelernt. Jetzt ist sie eine vollwertige Alpenfachkraft, Sennerin und Hirtin in Personalunion. So, als wäre dies das Normalste der Welt. Dabei ist sie in einem anderen Leben jemand ganz anderes: eine Kulturmanagerin. Lange verantwortlich für die Kommunikation im Zürcher Jazzclub Moods, ist sie heute sowohl im OK des Musikfestivals M4Music wie auch für das erfolgreiche Indepen dentlabel Bakara Music tätig. Dort betreut sie Künstler wie Lo & Leduc oder Nemo. Sie lebt ein Leben im Kultur trubel, viel auf Achse, lange Nächte, kaum fixe Struktur. Das sieht hier oben, auf 1630 bis knapp 2500 Meter über Meer, ganz anders aus. Hier erfindet sie sich für viereinhalb Monate komplett neu. Genau dies hat den Journalisten an diesem Morgen hierhergetrieben: die Auseinandersetzung mit der Freiheit, sich ein neues Leben zuzulegen und sich diesem ganz zu verschreiben. 

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Ruhe und Musse? Wann denn? 

Das Leben auf der Alp ist alles andere als entspannend. Es beinhaltet eigentlich nur eines: harte körperliche Arbeit. Sieben Tage pro Woche, von morgens um Viertel nach vier bis abends um neun. Zwischendurch bleibt knapp Zeit für drei halbstündige Essenspausen. Wer sich nur mal schnell für 24 Stunden auf dieses Leben einlässt, wird davon fast überrollt. Die Rolle des Zaunoder Feriengastes ist auf der Alp gar nicht vorgesehen. Dafür ist die Hütte zu ungemütlich und der Arbeitsaufwand schlicht zu gross. Einfach nur zuschauen geht hier nicht. Also packt man mit an, erprobt sich als Herdentreiber, versucht, die Ziegen aus dem Stall in den Melkstand zu treiben, hilft beim Saubermachen, macht sich bei der Käseproduktion (verbunden mit noch mehr Saubermachen) nützlich. Und wenn man sich dabei so ungelenk wie der Schreibende anstellt, kommt man sich richtig doof vor. 

 

Ohne Geschick und ohne Durch setzungsvermögen ist man aufgeschmissen. Es ist eine Aufgabe, die volle Hingabe erfordert. Man richtet sich nach 180 Tieren und ihren Bedürfnissen. Ein Mammutprojekt, dessen Freiheit aber genau auch in den Ausmassen dieses Mammuts steckt. Wer sich entschieden hat, hier oben zu wirken, darf oder muss für viereinhalb Monate alles andere ausblenden. Ausgang? Inexistent. Social Media? Inkompatibel. Schöne Kleider? Hinderlich. Ruhe und Musse? Ja, wann denn? Man kann sicher sein, dass irgendeine Ecke in der Sennerei noch nicht von käseschädigenden Bakterien befreit oder irgendeine entzündete Ziegenzitze noch nicht versorgt ist. 

 

Ausserdem gilt der Satz, den sicher auch Sepp Herberger so unterschrieben hätte: Nach dem Melken ist vor dem Melken. Hat man mal alle Tiere in 24er-Gruppen durch den Melkstand geschleust, geht das Spiel wenige Stunden später schon wieder von neuem los. Zweimal pro Tag müssen die Tiere Milch lassen. Lieferten sie anfangs noch rund 350 Liter, hat sich das Volumen nun, zweieinhalb Monate später, auf knapp 190 Liter pro Tag reduziert.

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Coole Ziegen
Der Schreibende freundet sich bei seinem Kurzbesuch mit der gämsfarbenen Ziege Daisy an. Die wohlgenährte Lumnezierin lässt sich nicht von der Hektik der Herde anstecken. Sie und ihre ähnlich konstituierte Freundin aus dem Prättigau sind die Nachzüglerinnen der Truppe. Und jetzt, da jemand ihre Gemütlichkeit als cool taxiert, schalten sie extra noch ein paar Gänge herunter. Warum nicht mal zehn Minuten mitten auf dem schmalen Pfad stehenbleiben? Warum den menschlichen Grünschnabel nicht einfach mal wegschubsen? Warum sich nicht mal genüsslich an dessen Gürtel scheuern oder den Rucksack anknabbern? Nur weil der jetzt wild mit den Armen rudert und «Heyheyhey!» schreit, gerät eine Ziegenwelt noch lange nicht ins Wanken. 

 

Doch den Ziegen böse zu sein, ist fast unmöglich. Sie erweisen sich als herzensgute, verschmuste Viecher. Ausgeprägter Charakter, markante Gesichtsausdrücke, kaum nachtragend, kein bisschen böse. Aber dazu morgen mehr. 

 

Kurz vor neun Uhr abends ist dann auch der letzte Tropfen Milch in die Sennerei überführt, das Melkgeschirr gereinigt. Zeit für ein Schnäpschen und ein paar Takte Veritas. Diem verbringt hier ihren zweiten Alpsommer, ist heuer zum ersten Mal für eine Alp verantwortlich. «Die Idee ist damals spontan gekommen und ergibt jetzt ganz und gar Sinn.» Es war wohl der Reiz am Experiment, schliesst man aus ihren Erzählungen. Die Herausforderung, das eigene Lebensmuster auf die Probe zu stellen. «Mein Hauptbeweggrund war mein Interesse an der Landwirtschaft und an den Tieren. Ich wollte wissen, wie man die Natur nachhaltig nutzt und bewirtschaftet oder wie Käse hergestellt wird», sagt sie. Neben der Freiheit, sich auf etwas konzentrieren zu können, hat sie hier schliesslich noch andere Freiheiten angetroffen. Die Freiheit, sich den ganzen Tag an der frischen Luft aufhalten zu können. Die Freiheit, sich wie die Tiere statt wie die Wanderer zu bewegen. Überhaupt die Freiheit, ständig um Tiere zu sein: «Ich bin so vernarrt in jede einzelne dieser Ziegen», sagt die Älplerin aus der Stadt. «Ich mache nichts lieber, als ihr Verhalten zu studieren.» 

 

 Im Oktober kehrt sie in ihr anderes Leben zurück. «Im Moment frage ich mich: Wie soll das sein, ohne Ziegen, ohne den Hund? Aber irgendwie hat es dann immer auch seine Richtigkeit, wenn der Herbst kommt und die Bauern ihre Tiere abholen. Und wenn keine Tiere mehr auf der Alp sind, hält einen selbst auch nichts mehr.» Dass dieser wunderschöne Ort selbst noch keine Freiheit verheisst, hat sie bereits vor der Ankunft erkannt.

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